Die Neuerfindung der Innovation

In einer von der digitalen Transformation geprägten, sich immer schneller verändernden Wirtschaftswelt ist Innovation wichtiger denn je. Als Management-Aufgabe ist sie im Idealfall ein strukturierter und zielgerichteter Prozess – und nur in seltenen Fällen die bahnbrechende Idee eines genialen Visionärs. Doch was macht erfolgreiches Innovationsmanagement aus?

„The Roots of Innovation“ von Data-Visualization-Artist Dr. Kirell Benzi stellt die Beziehung von Innovation und Forschung dar.

Wer wissen möchte, was Unternehmen wie Google, Volkswagen, IBM oder Pixar so innovativ macht, muss Linda A. Hill fragen. Die Professorin an der renommierten Harvard Business School hat mehr als ein Jahrzehnt lang mit ihrem Team Führungskräfte aus diesen und vielen anderen erfolgreichen Unternehmen befragt.

Die Harvard Business School ist eine der renommiertesten Universitäten weltweit

Ihr Ziel: herauszufinden, welche Management- Methoden, Strategien und Prozesse Unternehmen einsetzen, um immer wieder aufs Neue innovative Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Man könnte meinen, analysiert die Harvard-Forscherin, der Schlüssel zur Innovation liege darin, außergewöhnlich kreative Talente zu gewinnen, die richtigen Investitionen zu tätigen oder organisatorische Silos in den Unternehmen aufzubrechen. Doch Hills Forschungen zeigen: Während all diese Maßnahmen durchaus hilfreich sein können, ist erfolgreiche Innovation vor allem eines – eine Frage professionellen Innovationsmanagements.


Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2019 werden in Deutschland Innovationen bereits von vielen Unternehmen aktiv vorangetrieben. Befragt wurden rund 1.000 Unternehmen, die in sieben innovative Milieus unterschieden wurden.

Die Studie zeigt aber auch, dass neben Technologieführern und innovationsfreudigen Unternehmen rund ein Viertel der Firmen bislang keinen Fokus auf den Bereich Innovation legt.

Dennoch ist in immer mehr Unternehmen das Innovationsmanagement inzwischen als eigenständiges Berufsbild etabliert: Innovationsexperten koordinieren alle Aktivitäten rund um die Neu- und Weiterentwicklung von Produkten, Prozessen, Geschäftsmodellen und Unternehmenskultur. Sie bringen Experten aus Forschung und Entwicklung, Marketing, Controlling und Vertrieb zusammen und sorgen dafür, dass auch von außen neue Ideen ins Unternehmen gelangen können. So entstehen echte Innovationen mit Mehrwert. Denn als anspruchsvolle Management-Aufgabe lässt sich die Innovationskraft von Unternehmen planen, steuern und gezielt fördern.

„Unternehmen sollten dazu bereit sein, ihre Prozesse, Kultur und die Organisation zu hinterfragen.“

Prof. Dr. Gunther Friedl, Dekan der School of Management an der TUM

Die vielleicht wichtigste Aufgabe der Innovationsmanager: „Starren Strukturen und allzu viel Selbstgewissheit auf allen Ebenen entgegenwirken. Und dafür sorgen, dass das Unternehmen beweglich bleibt“, erklärt Prof. Gunther Friedl, Dekan der School of Management an der Technischen Universität München (TUM). Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie sich Innovationskraft und Leistungsfähigkeit von Unternehmen messen und steuern lassen. „Entscheidend für die Innovationskraft von Unternehmen ist das Bewusstsein, dass sie Bestehendes immer wieder überprüfen und neu bewerten müssen.“ Um in der digitalisierten Wirtschaftswelt zu bestehen, sind nämlich nicht nur innovative Produkte und Dienstleistungen gefragt: „Unternehmen sollten immer dazu bereit sein, auch ihre eigenen Prozesse, ihre Kultur und ihre Organisation zu hinterfragen und neu zu gestalten.“ Das bedeutet: Auch das Innovationsmanagement selbst muss für Veränderungen offen sein.


Wie aber kann sie ganz konkret aussehen, die Weiterentwicklung des Innovationsmanagements im von Disruptionen geprägten digitalen Zeitalter? Bei Mittelständlern und Konzernen zeichnen sich, quer durch alle Branchen, einige Trends ab.

01 / Trend Nummer eins: Innovationslabore und agile Innovationsprozesse etablieren sich

Viele Unternehmen wollen sich neben ihrem Kerngeschäft öffnen für neue, digitale Geschäftsmodelle und Partnerschaften mit Start-ups, mit Wissenschaftlern oder mit Unternehmen aus anderen Branchen. Gleichzeitig dürfen sie dabei aber erfolgreich laufende Geschäftsbereiche nicht gefährden. In Unter­nehmen quer durch alle Branchen haben sich daher in den vergangenen Jahren Innovationslabore als wirksames Instrument zur Innovationsförderung etabliert. Anders als übliche Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sind sie in der Regel strukturell abgetrennt von der Kernorganisation. Als Experimentierräume bieten sie Platz für ungewöhnliche, manchmal sogar zunächst absurd erscheinende Ideen.

Im Merck Innovation Center in Darmstadt werden Menschen, Technologien und Kompetenzen aus unterschiedlichen Disziplinen zu­sammengebracht

Im geschützten Raum eines Innovationslabors können Mitarbeiter sich ausprobieren und neue Ideen umsetzen: Sie testen agile Arbeits­me­tho­den, lernen Innovations-Tools in der Praxis kennen. Sie arbeiten an Machbarkeitsanalysen und an der Umsetzung von Pilotprojekten oder sie erstellen sogenannte Minimal Viable Products, also Produkte, mit denen die Innovationsteams im Probeeinsatz möglichst schnell Nutzer-Feedback einsammeln. Schließlich tragen sie das so gesammelte Wissen und ihre Ideen auch wieder zurück in die Kernorganisation.

Case 01: BMW
Offen für Veränderung

Innovation hat Tradition bei der BMW Group. Knut Mayser arbeitet seit 30 Jahren für den Automobilhersteller, ist heute Leiter des Innovationsmanagements. Er erklärt: Das Selbstverständnis des Autobauers hat sich in den vergangenen Jahren radikal geändert – und damit auch der Ansatz, wie BMW neue Produkte entwickelt.
 

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02 / Trend Nummer zwei: digitale Unterstützung für das Innovationsmanagement

Die Digitalisierung bleibt ein großer Treiber für Innovation. Daher liegt es nahe, auch den Innovationsprozess selbst zu digitalisieren und so transparenter und effizienter zu gestalten. Ein erster Schritt kann hierbei sein, spezielle Innovationsmanagement-Software und Wissensmanagement-Plattformen im Unternehmen zu etablieren, über die der gesamte Innovationsprozess läuft: von der Weiterentwicklung der Innovationsstrategie über die konkrete Ideenfindung, Konzeption und Prototyping bis hin zur Umsetzung und Erfolgsmessung.

In Zukunft werden Unternehmen im Innovationsprozess zudem immer stärker auf die Unterstützung durch Künstliche Intelligenz zurückgreifen können. Ein Beispiel, wie das bereits heute in der Praxis aussehen kann, liefern Dr. Antonino Ardilio und sein Team, das am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) zum Thema Innovationssysteme forscht.

Moderne Software systematisiert den Innovationsprozess und macht Ergebnisse messbar

„Eine der Herausforderungen im Innovationsmanagement ist, dass es zunehmend unmöglich wird, alle relevanten neuen technologischen Entwicklungen, Forschungsergebnisse und Veränderungen im Blick zu behalten“, berichtet Ardilio.


Allein die Anzahl wissenschaftlicher Dokumente verdoppele sich alle neun Jahre, erzählt er. „Egal wie viele Experten, Forscher und Entwickler ich einstelle, da kommen einzelne Menschen auf Dauer nicht mit.“ Ardilio und sein Team setzen daher Künstliche Intelligenz ein, um relevante Daten und Informationen zu identifizieren und sie miteinander in Verbindung zu bringen. „Wir haben Algorithmen entwickelt und trainiert, die wissenschaftliche Papiere, Studien, Patente und Wissensnetzwerke automatisiert durchsuchen und relevante neue Ideen und Forschungsergebnisse identifizieren.“

Ein Beispiel aus der Praxis: Die Forscher arbeiteten mit einem Unternehmen zusammen, das aus Metall nahtlose Gaszylinder herstellt, die Taucher für ihre Sauerstoffversorgung nutzen. Ein kleiner Nischenmarkt mit wenig Wachstumspotenzial. Das Unternehmen suchte also neue Märkte für seine Produkte. Ardilio und sein Team setzten ihre Künstliche Intelligenz darauf an, nach alternativen Funktionen für die nahtlosen Metallzylinder zu suchen. Und der Algorithmus wurde fündig: Er fand heraus, dass nahtlose Rohre in vielen Industrieunternehmen gebraucht werden. Sie werden zum Beispiel für Kardanwellen verwendet, die das Drehmoment von Motoren übertragen. Mit der Tauchflaschen- Technik konnten diese Rohre leichter und günstiger hergestellt werden als mit bisher üblichen Verfahren. „Heute verkauft das Unternehmen mehr Bauteile für Kardanwellen als Tauchflaschen“, berichtet Ardilio stolz.


Die Forscher sind überzeugt, dass sich nach einem ähnlichen Muster an vielen Stellen im Innovationsprozess Künstliche Intelligenz einsetzen lässt. Auch zur Optimierung des Innovationsmanagements selbst lassen sich Algorithmen trainieren: „Man kann den Algorithmus zum Beispiel auswerten lassen, wo es in bestehenden Innovationsprozessen hakt, wo die Engstellen sind, an denen neue Ideen hängenbleiben“, erklärt Ardilio.

Case 02: EnBW
Inkubator für neue Geschäftsideen

Die EnBW Energie Baden-Württemberg AG ist mit 24.000 Mitarbeitern und 5,5 Millionen Kunden eines der großen Energieunternehmen Deutschlands. Ihr Bereich EnBW Innovation wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. 2022 konnte man den ersten Platz in der Kategorie „Venture Building“ beim Digital Lab Award des Wirtschaftsmagazins Capital belegen.
 

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03 / Trend Nummer drei: Innovationsnetzwerke

Wissenschaft basiert zu einem großen Teil auf Austausch und Kollaboration. Entdeckungen oder Erfindungen bauen fast immer auf vorherigen Erkenntnissen von Forschern oder Entwicklern auf.

Nach dem gleichen Prinzip arbeiten Unternehmen zum Beispiel an der Weiterentwicklung von Software: Sie öffnen ihre Quelltexte für die sogenannte Open-Source-Entwicklung, so dass jeder sie frei nutzen und weiterentwickeln kann. Die Absicht dahinter: Die Ideen und Fähigkeiten von Vielen bringen jeden Einzelnen weiter, als er es auf eigene Faust schaffen könnte.

Aber auch jenseits der Software-Entwicklung wird Innovation immer mehr zur Teamleistung: In der Regel entsteht Innovation heute in Zusammenarbeit verschiedener Unternehmensbereiche und unter Einbindung von Kunden und externen Unternehmen.

Statt neue Ideen möglichst lange geheim zu halten und schnell mit Patenten zu schützen, geht der Trend hin zu mehr Transparenz. „Es geht dabei aber nicht um eine naive Offenheit – sondern darum, sich ganz gezielt in für die Innovation wichtigen Bereichen zu öffnen“, sagt TUM-Experte Friedl. Diese „Open Innovation“ bedeutet für viele Unternehmen allerdings einen starken Kulturwandel. „Ein großer Vorteil ist, dass man in der Zusammenarbeit mit anderen oft erst die eigenen komparativen Vorteile und Stärken erkennt.“ Dieses Wissen nehme man dann wieder mit, um das eigene Angebot intern weiterzuentwickeln.

Case 03: Open-Industry-4.0-Alliance
Innovation im Netzwerk

In der Open-Industry-4.0-Alliance haben sich Industrieunternehmen und IT-Dienstleister zusammengeschlossen, um gemeinsam am industriellen Internet der Dinge und dem Weg zur digitalen Fabrik zu arbeiten.

 

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04 / Trend Nummer vier: mehr Nachhaltigkeit im Innovationsprozess

Die meisten Unternehmen rücken heute die wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit ihres Handelns in den Vordergrund – denn Verbraucher, aber auch Mitarbeitende wünschen sich Klarheit über den „Purpose“, also die Werte und Ziele eines Unternehmens. „Der Druck, zum Beispiel die Klimaziele zu erreichen, ist quer durch alle Branchen sehr groß. Die Themen Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung haben in den Führungsetagen Top-Priorität“, bemerkt Professor Friedl.

Schätzungen des Umweltbundesamtes zufolge werden mehr als 80 Prozent der Umweltauswirkungen eines Produkts bereits in der Designphase bestimmt. Es gilt also, Nachhaltigkeitskriterien wie etwa den CO2-Fußabdruck eines Produktes, soziale Standards in den Lieferketten oder den Energie- und Wasserverbrauch in der Herstellung bereits möglichst frühzeitig in den Innovationsprozess einzubeziehen.

Eine Studie des Fraunhofer-Verbunds Innovationsforschung und der Hochschule Pforzheim von 2019 zeigt: Mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen haben bereits konkrete Nachhaltigkeitsziele in ihre Innovationsstrategie aufgenommen. Sie arbeiten zum Beispiel an Prozessinnovationen, die dabei helfen, die eigene Produktion klimafreundlicher zu machen. Aber auch bei Produktinnovationen spielen Nachhaltigkeitskriterien eine Rolle: Immer mehr Unternehmen berücksichtigen zum Beispiel die Ökobilanz von neuen Produkten oder achten darauf, dass diese recyclingfähig sind.

Die aktuellen Innovationstrends zeigen in ihrer Vielfalt und Komplexität: Erfolgreiche Unternehmen sehen Innovation als eine ganzheitliche Herausforderung. Es gilt, nicht nur einzelne innovative Projekte voranzutreiben, sondern ein ganzes Innovations-Ökosystem zu gestalten und zu steuern. So funktioniert Innovation heute.

Interview:
„Innovation hat oft mehr mit Disziplin und Kontrolle zu tun als mit Kreativität“

Prof. Stefan Thomke ist Innovationsforscher an der Harvard Business School. Im Interview erklärt er, warum innovative Unternehmen eine Kultur des Experimentierens entwickeln müssen. Sein Aufruf an Innovationsmanager: „Act like a Scientist!“
 

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Statement:
Wie verändert sich die Entwicklung von Innovationen durch die digitale Transformation und was bedeutet das für Unternehmen?

Dr. Ali Aslan Gümüsay hat an der University of Oxford promoviert. Er ist Forschungsgruppenleiter Innovation, Entrepreneurship & Gesellschaft am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG), Research Fellow an der Judge Business School, University of Cambridge, und leitete das Netzwerk „Grand Challenges & New Forms of Organizing“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
 

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Bildnachweise: Bild 1: Kirell Benzi, Bild 2: Susan Young for Harvard Business School, Bild 3: Merck KGaA, Bild 4: Andrey Popov

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